Der dreiäugige Max
Als ich ihn, Max, das letzte Mal traf, war es schlecht um ihn bestellt gewesen. Beinahe hätte ich ihn nicht erkannt, im schäbigen Trainingsanzug und den langen Haaren.
Ich kam gerade von meinem Krebsfußball-Verein und wollte heim gehen, als ich ihn in der Winklergasse, nahe am Sozialamt, in einen öffentlichen Papierkorb pinkeln sah.
Als er mich bemerkte - er schüttelte gerade ab - hob er den Kopf und sagte: „Ach, Jost, hallo!“ Dann schloss er seinen Hosenstall und bückte sich im Anschluss nach einem lauten Plastiksack, in dem er Leergut-Flaschen gesammelt hatte.
Ich fragte nicht wie es ihm geht; von ganz allein sagte er: „Ach, Jost, gut gehts mir nicht“ Und als ich herausfinden wollte, ob er noch fotografiere, winkte er nur ab und rückte seine Brille auf der Kartoffel-Nase zurecht. Eines der Gläser war gesprungen, sodass man das Auge dahinter zweimal sehen konnte. Max hatte jetzt drei Augen.
Er huckte den Flaschensack auf und sagte, dass er seinen Fotoapparat nach dem letzten Job in Ruanda an den Nagel gehängt hätte. Er könne so nicht weitermachen, klagte er. Die Hutu vor Ort hatten ihn unter der Bedrohung seines Lebens gezwungen, ein Massaker an etwa fünfzig Tutsi bildlich festzuhalten. Unvorstellbar. Danach, sagte er, hätte mit ihm nichts mehr gestimmt. „Ich war ein guter, ein wirklich guter Fotojournalist“, betonte er, „aber...“, er brach den Satz hier ab und ließ ihn mit einem Kopfschütteln ausklingen.
Max; „Zuerst haben sie Granaten in die Menge geworfen und dann geschossen“, sagte er und ging mit mir zu einer nahen Bank. „Dann haben die den Rest der Leute mit Macheten zerhackt“
Ich selbst wusste gar nicht, was ich sagen sollte.
„Ich habe auf der Straße einen Kopf mit einer Schulter und einem Arm daran gesehen“, sagte er; seine Stimme zitterte. „Der Rest des Jungen war einfach verschwunden“ Ich antwortete nichts. Konnte ja nicht.
„Ein anderer Junge, gerade einmal elf oder zwölf Jahre alt, hat mit einer russischen Maschinenpistole einer Mutter den Kopf weggeschossen; die Frau hatte gerade ihre Tochter auf dem Arm“ Wir schüttelten beide den Kopf und ich habe mir sogar vor Entsetzen den Mund zugehalten.
Jawohl, Max war ziemlich voll. Und er hatte offenbar den Glauben an die Menschen verloren. Restlos. Er sagte, dass man jedem Menschen auf der Welt so viele Waffen geben solle, wie er selbst tragen kann; je mehr Leute sich gegenseitig umbringen, umso besser für die Erde, für die Evolution, für Gott, sagte er ganz ernst.
Ich fragte ihn daraufhin, was mit den armen Kindern wäre, aber er winkte nur ab, rückte seine Brille zurecht und behauptete, dass Kinder nur so lange lieb seien, bis man ihnen die Mutterbrust aus dem Mund nähme; danach gingen sie, genau wie ihre Eltern, hinaus, um zu belügen und zu betrügen und zu morden.
Max: „Jost, mit den Menschen ist es genau wie mit den Insekten. Nur umgekehrt“
Er sagte, dass die Insekten im Larvenstadium hässlich und grässlich seien, sich aber nach der Verpuppung oft in ganz ansehnliche Wesen verwandelten. Die Menschenlarven aber, die Kinder also, seien zunächst herzzerreißend niedlich, würden sich aber später in gemeine Ungeheuer verwandeln.
Ob man das denn verallgemeinern könne, fragte ich ihn. „Natürlich, Jost, natürlich“, antwortete er aufgeregt und meinte, dass es von Natur aus überhaupt keine guten Menschen gäbe. „Einige verblödete“, sagte er, „glauben tatsächlich, sie seien gut. Sie ziehen sich bunte Klamotten an, lächeln den ganzen Tag lang etwas dämlich und helfen anderen Ungeheuern ungeheuerlich zu sein...“, und er ergänzte: „Das sind die schlimmsten!“
Ob er nicht etwas übertreibe, fragte ich, aber Max winkte ab und rückte seine Dreiaugenbrille zurecht. „Sobald die Kleinen“, sagte er, „in die Obhut des Staates kommen, ist es vorbei mit ihnen!“
Max weiter: „Seit Generationen tun die Staaten der Moderne nichts anderes, als dem Menschen, also den Menschenskindern, permanent in den Kopf zu machen!“, behauptete er. Ich sagte nix zu Max.
Max weiter: „Der alte Wilhelm hat unseren Großeltern in den Kopf gemacht; der Adolf hat unseren Eltern in den Kopf gemacht und Brandt und Schmidt und Kohl haben uns in den Kopf gemacht. Drüben haben die Kommunisten den Kindern in den Kopf gemacht und heute nehmen die Staaten extra starke Abführmittel, um den Kindern besonders viel in den Kopf zu machen!“, sagte Max. Ich sagte nix und nickte.
„Jost, verstehst du? Jeden Tag wird Millionen von Kindern auf der Welt ständig in den Kopf gemacht. Millionen indoktrinierter Lehrer entleeren sich tagtäglich über den Köpfen unserer Kinder! Jost, unsere Lehr- und Erziehungsanstalten sind nichts anderes als gewaltige Latrinen, in denen auf direktem Wege in die Köpfe unserer Kinder gemacht wird!“ Ich sagte nichts, nickte aber.
"In den verfluchten Koranschulen wird den armen Kindern Glaubens-Kot und Priester-Stuhl in den Schädel gehäufelt, Jost, und in unseren Gymnasien lernen die Kinder jeden Tag, wie man Staatsfäkalien mit dem Kopf verdaut!“ Max war wirklich voll. Sehr.
„Jost, weißt du überhaupt, warum es eine Schulpflicht gibt?“
Ich zuckte mit den Schultern und sagte nichts. Mit den Augenbrauen zuckte ich auch. Ich habe für jedes Auge eine Braue.
„Damit der Staat seine stinkenden Propagandahaufen in wirklich jeden Kinderkopf platschen lassen kann!“
Mir fiel auf, dass Max ebenfalls nur zwei Brauen hatte; dafür aber drei Augen.
„Jost, hörst du! Alle denken doch nur, dass sie denken; aber das stimmt nicht! Alle funktionieren nur noch übers Endokrine System, Jost! Genau wie die Frauen in ihren Mondphasen - ganz ohne Hirn, nur über Hormone!“
Ich sagte nichts dazu, dachte aber über die Uhrzeit und über die Spiel-Übertragung am Abend im Fernsehen nach. Und darüber, dass ich eigentlich dringend Groß müsse.
Und irgendwie, während Max noch sprach, zog vor meiner inneren Nase schon der Geruch meiner benutzten Toilette vorbei.